Vor ein paar Wochen bin ich über eine interessante Seite gestolpert: parties-and-elections.eu. Neben ein paar Terminhinweisen zu Wahlen in Europa findet man auf der Seite vor allem eine beachtenswerte Datenbank europäischer Wahlergebnisse:
Parties and Elections in Europe provides a comprehensive database about the parliamentary elections in the European countries and autonomous subdivisions since […] The database currently contains the results of legislative elections from all European countries and more than 100 subdivisions.
Da ich das Standardwerk „Elections in Europe. A Data Handbook“ von Nohlen & Stöver leider nicht vorliegen habe, ist für mich diese Seite die Möglichkeit, mir einmal einen kompletten Überblick über die Parteiensysteme in der Europäischen Union (EU) zu verschaffen – zumindest in Bezug auf nationale Parlamentswahlen. Seit einiger Zeit treibt mich nämlich die Frage um, wie es um die Parteiensysteme in Europa bestellt ist. In einem Artikel, den Niedermayer für das Parteiendossier auf bpb.de schrieb, umschrieb er Konstanz und Wandel der europäischen Parteiensysteme so,
dass die Stabilität der westeuropäischen Parteiensysteme deutlich höher ist als die der neu entstandenen und sich zum Teil immer noch in einem Konsolidierungsprozess befindenden ostmitteleuropäischen Systeme.
Und zu aktuellen Entwicklungen schrieb er:
Einige der Veränderungen haben sich in neuester Zeit im Gefolge der Finanz- und Eurokrise vollzogen bzw. sind für die nahe Zukunft zu erwarten.
Genau das war für mich seitdem ein bisschen die Frage: Wie konstant sind die europäischen Parteiensysteme generell? Und vor allem: Stürzen die aktuellen Herausforderungen in Europa auch die/alle europäischen Parteiensysteme in eine Krise?
Effektive Parteienanzahl und Pedersen-Index
Von all den Eigenschaften eines Parteiensystem, die Niedermayer in seinem Artikel beschreibt, erschienen mir Format bzw. Fragmentierung und Volatilität am besten geeignet, um die europäischen Parteiensystem auf Basis der Daten von parties-and-elections.eu zu analysieren.
Fragmentierung : […] Um die Frage zu beantworten, ob ein Parteiensystem mit einer bestimmten Anzahl von Parteien auf wenige große Parteien konzentriert oder in viele kleine Parteien zersplittert ist, wird […] die Fragmentierung bestimmt. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien bei den Wählerstimmen bzw. den Parlamentsmandaten in den Blick und gibt den – durch bestimmte Messgrößen bestimmten – Grad an Zersplitterung eines Parteiensystems an.
Volatilität: Aussagen über einen Systemwandel können daher […] nur durch den Vergleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Das Phänomen des Wandels selbst wird durch die Volatilität gemessen, die die Veränderungen der Größenrelationen zwischen den Parteien bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen anzeigt. (Niedermayer)
Zur Berechnung der Fragmentierung des Parteiensystems ziehe ich daher die effektive Anzahl der Parteien heran. Die Volatilität messe ich dagegen mit dem Pedersen-Index. Ich bin mir dabei der Schwäche der Datenbasis bewusst und sehe auch die Probleme beider errechneter Faktoren. Aber um grobe Aussagen über die Entwicklung von Parteiensystemen treffen zu können, genügen mir auch diese unscharfen Werte. In der Politikwissenschaft geht es ohnehin um Tendenzen und Richtungen und weniger um exakte Mathematik.
Zuerst ist natürlich interessant, wie die Volatilität und Fragmentierung in den einzelnen Staaten aussieht. Sind sie generell sehr hoch oder niedrig? Gibt es Umbrüche? Wie steht es um die jüngste Entwicklung?
Aus all den Daten habe ich außerdem einen EU28-weiten Wert für die Fragmentierung und die Volatilität errechnet und dessen Verlauf nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt. Dabei bringt jedes Land nach einer Wahl solange die Werte der Wahl ein, bis die nächste Wahl ins Haus steht. Die Länder habe ich nach der Einwohnerzahl gewichtet, da Malta und Deutschland für die Parteiensysteme in Europa doch unterschiedliche Bedeutung haben. Und da nicht alles Staaten in ihrer aktuellen Form schon seit 1945 exisiteren erhöht sich die Anzahl der eingeschlossenen Länder erst mit der Zeit.
Eine ungewöhnlich hohe Volatilität würde generell auf einen Umbruch oder eine starke Unsicherheit im Parteiensystem hindeuten. Problematisch wäre das vor allem dann, wenn der Anstieg der Volatilität mit einem Anstieg der Parteienanzahl einherginge. Ein solches System würde eine hohe Unsicherheit mit einer großen Zersplitterung der Parteienlandschaft paaren und hätte somit denkbar schlechte Voraussetzungen für eine stabile Regierungs- und Parlamentsarbeit. Weniger problematisch wäre dagegen eine hohe Volatilität gemeinsam mit einem Rückgang der Parteienanzahl. Diese sollte aber nicht zur Dominanz einer Partei führen und ein bisschen Distanz vom Wert 2,0 einhalten um echte demokratische Pluralität zu ermöglichen.
Andere Faktoren, mit denen evtl. der Zustand von Parteiensystemen analysiert werden könnte, lasse ich hier bewusst außen vor.
Die Entwicklung in den einzelnen Staaten
Bei der einzelnen Beurteilung der 28 Parteiensysteme drängt sich rasch die Idee auf, diese in verschiedene Gruppen einzuteilen. Bei der Gruppeneinteilung geht es – der Fragestellung folgend – vor allem darum, wie sich Volatilität und Fragmentierung der Parteiensysteme in den letzten Jahren seit der Manifestierung der Eurokrise verhalten haben. Entscheidend bei der Gruppeneinteilung war für mich die Veränderung der Volatilität und Fragmentierung in den Jahren 2010-2015 gegenüber den Werten des vorherigen Jahrzehnts.
Deutlich erhöhte Volatilität und Pluralisierung: Anzeichen einer Krise?
In die erste Gruppe fallen Länder, deren Volatilität in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist und zugleich eine Erhöhung der effektiven Anzahl der Parteien stattgefunden hat.
- Griechenland: Denkt man an eine mögliche Krise der Parteiensysteme in Europa, kommt einem zuerst wohl Griechenland in den Kopf. Nicht zu Unrecht: War das griechische Parteiensystem nach seiner Gründungsphase ab den frühen 1980ern sehr stabil – mit einer Parteienanzahl zwischen 2,6 und 3,2 und einer Volatilität meist im einstelligen Prozentbereich -, so zeigten sich 2012 klare Zeichen einer Krise: Bei der Wahl im Mai stieg die Volatilität auf 42 % und die Parteienzahl schoss zeitweise auf 9,1, was die Regierungsbildung nahezu unmöglich machte. Auch bei der Wahl nur sechs Wochen später hielt sich die Anzahl der Parteien bei rekordverdächtigen 5,2 und die Volatilität sank zwar, war aber immer noch über den bekannten Werten. Die Wahl 2015 brachte etwas Beruhigung. Volatilität und Anzahl sanken wieder. Dennoch: Das griechische Parteiensystem steckt wohl in einer Krise. Dass die Beruhigung in eine stabile Phase mündet ist sehr unsicher.
- Irland: Auch das irische Parteiensystem war lange Zeit sehr stabil – wenngleich zum Teil die Volatilit, auf jeden Fall aber die Fragmentierung ab 1987 zunahmen. Aber die Wahl 2011 stellte die Entwicklung in den Schatten: Die Wähler straften die Parteien deutlich ab – allen voran die ehemals größte Fianna Fáil. Gleichzeitig fragmentierte sich das Parteiensystem stärker. Auch hier scheint klar: Das irische Parteiensystem steckt in der Krise. Aktuelle Umfragen lassen erwarten, dass der Umbruch auch bei der Wahl 2016 weitergeht – wobei vermutlich die Volatilität etwas nachlassen, gleichzeitig die Fragmentierung aber steigen wird.
- Spanien: Das spanische Parteiensystem war seit den späten 1980er- bzw. frühen 1990er-Jahren auf dem Weg der Konsolidierung. Eine Volatilität unter zehn Prozent und eine von 4,2 (1989) auf zuletzt 2,8 (2008) abnehmende Anzahl kennzeichneten es. Die Wahl 2011 ist da ein klarer Bruch: Die Parteienanzahl nahm wieder zu, die Volatilität stieg – wenn auch auf einen im europäischen Vergleich niedrigen Wert. Manifestieren sich bei der Wahl im Dezember 2015 allerdings die aktuellen Umfragewerte, dann wird vor allem die neu gegründete Podemos das System durcheinander bringen. Sie würde sich vor allem auf Kosten der Partido Popular etablieren. Für eine tatsächliche Krise bliebe die Volatilität jedoch zu niedrig. Aber die für spanische Verhältnisse enorm gestiegene Fragmentierung könnte dann für Regierungsbildungen ungewohnt problematisch werden.
- Tschechien: Die Veränderungen im Parteiensystem Tschechiens ähneln der anderer Staaten Mittel- und Osteuropas: Nach der Neugründung des Parteiensystems 1990 kam es bei der nachfolgenden Wahl (1992) zu einer extrem hohen Volatilität und starken Fragmentierung. Beide Faktoren gingen jedoch im Lauf der 1990er- und 2000er-Jahre zurück, blieben aber weiterhin auf hohem Niveau. Auslöser für den Anstieg beider Werte bei den Wahlen 2010 und 2013 war zum Teil aber wohl auch schon die Wahl 2006: Ein Patt zwischen beiden Lagern lähmte die tschechische Politik. Die Parteien waren aber nicht in der Lage, dieses Patt zu lösen. Das gesunkene Vertrauen der Bevölkerung zu ihren Politikern trug dann sicher auch zur starken Fragmentierung bei. Mit zuletzt effektiv 7,6 Parteien scheint eine stabile Arbeit der politischen Institutionen schwierig.
- Finnland: Das finnische Parteiensystem war lange Zeit sehr stabil. Dabei zeigte Finnland, dass eine niedrige Volatilität auch bei einer verhältnismäßig hohen Parteienanzahl von 4,9 bis 6,2 möglich ist. Die Wahl 2011 brachte daher auch nur insofern einen Umbruch mit sich, dass sich zusätzliche die Partei Wahre Finnen auf Kosten fast aller anderen Parteien etablierte. Dieser Wandel schlug sich in einer für finnische Verhältnisse hohen Volatilität (14,9 %) und einer gestiegenen Parteienanzahl (6,5) nieder. Bei der Wahl 2015 stabilisierte sich das System bereits. Der Wandel scheint vorerst abgeschlossen.
- Vereinigtes Königreich: Das britische Parteiensystem macht seit den 1950ern einen konstanten Wandel durch: Von einem strikten Zweiparteiensystem (2,1) ausgehend findet eine allmähliche Pluralisierung statt. In den 1980ern wurde die Marke von 3,0 endgültig überschritten und mit der Wahl von 2015 (3,9) scheint die 4,0 nicht mehr allzu fern. Dabei ist die Volatilität in Großbritannien im Allgemeinen sehr niedrig. Die Wahl 2015 fällt daher insofern ins Auge, als dass sie einen für britische Verhältnisse sehr hohen Volatilitätswert (16,5 %) mit sich brachte. UKIP löste die Liberal Democrats als dritte Kraft im System ab. EU-Skeptizismus hat damit eine eigene starke Vertretung im britischen Parteiensystem. Auf die Regierungsarbeit hat dieser Umbruch vorerst keine institutionelle Auswirkung: Nach einer fünf Jahr andauernden Koalitionsregierung konnten sich die Tories als Alleinregierung stabilisieren. Die inhaltliche Dimension dieses Wandels wird das Land allerdings noch einige Zeit beschäftigen.
Auffällig in den sechs Ländern mit den stärksten destabilisierenden Veränderungen in den letzten Jahren ist, dass wesentliche Impulse für die Veränderung von den zentralen Themen der europäischen Politik ausgingen – in Tschechien bildete sie zumindest einen ungünstigen Hintergrund für die innenpolitischen Probleme. Eine echte Krise scheint aber nur in Griechenland, Irland und Tschechien vorzuliegen. In Finnland, Spanien und dem Vereinigten Königreich handelt es sich dagegen eher um einen kleinen Umbruch oder einen starken Wandel. Die beiden letzteren werden mit den Folgen des (zum Teil noch ausstehenden) Wandels allerdings stark beschäftigt sein.
Erhöhte Volatilität und zum Teil veränderte Fragmentierung: Unruhige Systeme
Nach den sechs ausführlich beschriebenen Systemen mit teils deutlichen Umbrüchen und Krisensymptomen folgte eine Gruppe von Parteiensystemen, die mit einer im Verhältnis zu den oben beschriebenen Systemen weniger stark gestiegenen Volatilität beschäftigt sind. Zum Teil führte dieser Anstieg auch zu einer erhöhten Parteienanzahl, zum Teil ging er aber auch mit einer sinkenden Fragmentierung einher.
- Portugal und Dänemark: In beiden Ländern ging eine klare Erhöhung der Volatilität mit einer im Vergleich erhöhten Fragmentierung einher. In Portugal fußen die gestiegene Fragmentierung und Volatilität vor allem auf den anhaltenden Verlusten der Sozialistischen Partei bei den Wahlen 2009 und 2011, in Dänemark brachte die Wahl 2015 eine verhältnismäßig hohe Volatilität mit sich. Mit der hohen Fragmentierung (seit 1975 zwischen 4,7 und 5,9) scheint das Land dagegen umgehen zu können.
In beiden Ländern handelt es sich um einen Wandel des Parteiensystems, ein drastischer Umbruch oder gar eine Krise ist nicht zu erkennen. Dass die Gewinner der Wahlen in Portugal und Dänemark rechtskonservative oder EU-kritische Parteien sind, ist aber wohl kein Zufall.
- Deutschland, Frankreich, Italien, Slowenien und Ungarn: In diesen Ländern kann zuletzt eine gestiegene Volatilität beobachtet werden, ohne dass die Fragmentierung wesentliche Änderungen erfährt. In Deutschland erstarkte die CDU/CSU bei der Wahl 2013 und führte die Fragmentierung wieder auf einen Wert wie schon 2005 zurück. Die Volatilität steigt dagegen in Deutschland schon seit den 1970er-Jahren an, auch wenn zuletzt ein verhältnismäßig deutlicher Anstieg zu sehen ist. Das französische Parteiensystem ist Unruhe gewohnt. Seit den späten 1970er-Jahren steigt die Volatilität bei jeder zweiten Wahl auf Werte um die zwanzig Prozent – so auch 2012. Die Parteienanzahl bleibt davon nicht unverändert und stieg 2012 auf nicht untypische 5,3 an. Italien hat den großen Umbruch des Parteiensystems 1994 erlebt. Nachdem die Fragmentierung von 7,6 (1994) auf 3,8 (2008) zurückgegangen war – bei relativ hoher Volatilität -, stiegen beide Werte 2013 wieder deutlich an. Bewegung brachten vor allem Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung und die liberale Bürgerliche Wahl. Beide Parteien gewannen addiert aus dem Stand zusammen ein Drittel der Wähler für sich. Die nächste Wahl in Italien lässt noch auf sich warten. Aktuelle Umfragen zeigen das Parteiensystem jedoch weiterhin in Bewegung. Diese Volatilität ist seit den 1990ern allerdings typisch für das Land. Das slowenische Parteiensystem besitzt seit seiner Neugründung eine hohe Volatilität und ist stark fragmentiert. Dabei konsolidierte sich das hochfragmentierte System der Gründungsjahre (9,1 bzw. 8,5 Parteien) zur Wahl 1996 auf 6,3 Parteien und pendelte sich zwischen diesem Wert und 4,9 ein. Bei den letzten drei Wahlen (2008, 2011, 2014) fällt dabei die zunehmende Volatilität ins Auge. Bei allen drei Wahlen konnte eine Partei (SD, PS, SMC) massive Zugewinne für sich verbuchen, die sie bei der nächsten Wahl wieder abgab. Ungarns Parteiensystem vollzog nach 1990 den für viele mittel- und osteuropäische Staaten typischen Wandel. Nach einer hohen Ausgangsfragmentierung konsolidiert es sich, wobei die Volatilität deutlich höher ist als z.B. aus den EU15-Staaten bekannt. Wendepunkt in dieser Entwicklung ist die Wahl 2010. Bei einer relativ hohen Volatilität steigt die Anzahl der Parteien erstmals wieder an. Problematisch dabei ist die Dominanz zugunsten der Fidesz. Auch wenn die Wahl 2014 das System etwas stabilisiert und die Unterschiede zwischen den Parteien ausgleicht, wäre ein weiterer Ausbau dieser Dominanz gefährlich für echte demokratische Abläufe.
Für die drei ersten Staaten ist in den letzten Jahren keine untypische Entwicklung zu beobachten. Alle drei Parteiensysteme verhalten sich in Bezug auf Fragmentierung und Volatilität innerhalb der Parameter, die für sie auch in der Zeit zuvor galten. Lediglich eine im Gesamtblick gestiegene Volatilität lässt darauf schließen, dass diese Staaten ggf. für einen begrenzten Umbruch anfällig wären. Leicht anders gelagert ist Slowenien: Dort scheint der stetige Umbruch zuletzt schon im System verhaftet zu sein ohne dabei die Fragmentierung zu erhöhen. Und in Ungarn hat der Wandel des Parteiensystems das parlamentarische System in die Nähe einer Demokratie-Krise gebracht.
- Rumänien: Das Parteiensystem Rumänien ist zuletzt durch eine hohe Volatilität bei sinkender Fragmentierung geprägt: Es befindet ich seit den frühen 1990er-Jahren in der Konsolidierung. Mit einer extrem hohen Volatilität (63,5 %) und einer hohen Fragmentierung (7,0) war die Wahl von 1992 der Startschuss für die stetige Konsolidierung. Die Volatilität lag in der Folgezeit zwischen 17,5 % und 38,0 % während die Anzahl der Parteien auf 3,9 sank. Mit der Wahl von 2012 sank aber die Anzahl der Parteien weiter ab auf 2,5. Anders als die Zahl vermuten lässt, handelt es sich dabei allerdings nicht um zwei große Parteien, die z.B. von einer Partei in Mittelposition ergänzt werden. Mit knapp 60 Prozent hält die Sozial-Liberale Union die Spitzenposition, zwei weitere Parteien folgen mit rund 15 Prozent, eine weitere mit fünf.
In Folge einer Staatskrise, die auch vor dem Hintergrund der weltweiten Wirtschaftskrise stattfand, kam es zur Dominanz einer einzigen Partei. Damit kann sich das Parteiensystem in der Zukunft zwar stabilisieren – aber auf Kosten demokratischer Pluralität. Für Rumänien ist demnach eine krisenhafte Situation des demokratischen Systems durch den Wandel im Parteiensystem eingetreten.
Mehr Parteien und konstante oder rückläufige Volatilität: Die Entwicklung schreitet voran
Die Niederlande, Österreich, Luxemburg, Bulgarien und Litauen bilden gemeinsam die Gruppe der Parteiensysteme, in denen sich die in den letzten Jahren erhöhte Fragmentierung weiter erhöht hat. Mit Wahlen mit einer außergewöhnlich hohen Volatilität können diese Länder nicht dienen. Im Gegenteil: Zum Teil ist diese sogar rückläufig. Die fünf Länder folgen in der Gesamtschau damit der Entwicklung, die sie schon länger begleitet: Die effektive Anzahl der Parteien nimmt zu. Herauszuheben sind Litauen mit einer für mittel- und osteuropäische Staaten typischen hohen Volatilität und Parteienanzahl und Luxemburg, das den Gegenpart mit besonders wenig Parteien und stabilen Verhältnissen bildet.
Von einer Krise der Parteiensystem ist in diesen Staaten gegenwärtig keine Spur zu sehen.
Stabile Verhältnisse
Belgien und Malta werden von besonders stabilen Verhältnissen geprägt.
- Belgiens Umbruch fand mit der Wahl 1981 statt. Von 4,6 erhöhte sich die effektive Anzahl der Parteien auf 9,0. Seit dieser Wahl konnte keine Partei auf mehr als 20 Prozent der Stimmen kommen – entsprechen verteilen sich die Prozente im nach Sprachgruppen aufgeteilten Parteiensystem auf mehrere kleinere Parteien. Auch wenn durch die Etablierung der Neu-Flämischen Allianz bei der Wahl 2010 Bewegung ins Parteiensystem kam: Das Parteiensystem ist stabil, aber die hohe Fragmentierung macht stabile Regierungsarbeit in Belgien nahezu unmöglich.
- In Malta sind die Begriffe Volatilität und Fragmentierung dagegen völlig unbekannt. Seit der Wahl 1981 teilen die beiden großen Parteien zwischen 98,1 % und 100 % der Stimmen unter sich auf – nur die Mehrheit wechselt hin und wieder. Seit den 1990er-Jahren hat sich zu ihnen eine Partei gesellt, die aber immer unter zwei Prozent der Stimmen bleibt. Dass die Volatilität 2013 „sprunghaft“ von 2,2 % auf 6,3 % anstieg ist daher nur eine kleine Variation eines Systems, dessen effektive Parteienanzahl schon länger zwischen 2,0 und 2,1 liegt.
Beide Parteiensysteme sind im letzten Jahrzehnt in ihrer Fragmentierung und Volatilität stabil, auch wenn das nicht immer zu stabilen politischen Verhältnissen führt.
Sinkende Volatilität, weniger Parteien: Sich beruhigende Systeme
In der letzten Gruppe sind sieben Parteiensysteme zusammengefasst. Dort sind die Volatilität und/oder die effektive Anzahl der Parteien in den letzten Jahren eher rückläufig. Die Parteiensysteme beruhigen sich.
- In Schweden fand ein nach langen Jahren der Stabilität in den 1990er- und 2000er- Jahren ein begrenzter Umbruch statt. Die Volatilität stieg über zehn Prozent, die Parteienanzahl überschritt die Marke von 4,0 und schritt auf die 5,0 zu. Mit den beiden Wahlen von 2010 und 2014 hat sich die Lage wieder etwas beruhigt. Zwar ist die Anzahl der Parteien weiter gestiegen, aber dahinter steckt nur eine sehr begrenzte Volatilität, die wieder unter zehn Prozent gefallen ist.
- Estland, Lettland und Polen zeigen sich als typische Vertreter Mittel- und Osteuropas: Seit den frühen 1990er-Jahren konsolidieren sich beide Systeme. Aus hochfragmentierten und hochvolatilen Systemen sind Parteiensysteme entstanden, die eine mittelhohe Fragmentierung und gemäßigtere Volatilität aufweisen.
- Auch die Slowakei folgt im Wesentlichen diesem Muster. Allerdings gibt es hier mit der Wahl von 2002 einen markanten Zwischenpunkt, als es Turbulenzen in einem Teil des Parteiensystems gab. Davon abgesehen ist auch das slowakische System auf einem kontinuierlichen Kurs der Konsolidierung und Beruhigung.
- Zypern zeigt sich seit 1981/1985 besonders stabil. Zwischen 4,1 und 5,0 schwankt die Parteienanzahl, zuletzt ist sie rückläufig. Die Volatilität liegt seitdem meist deutlich unter zehn Prozent.
- Kroatien besitzt seit seiner Gründung ein gemäßigt volatiles und fragmentiertes Parteiensystem. Zuletzt sind beide Werte jedoch deutlich niedriger als in den 1990er- oder frühen 2000er-Jahren.
Für diese Länder gilt: Die Parteiensysteme sind in einem ruhigen Fahrwasser unterwegs.
Die Entwicklung in den 28 EU-Mitgliedsstaaten in der Gesamtschau
Wie beschrieben zeigen nur einige wenige staatliche Parteiensysteme ein krisenhaftes Verhalten. Daraus zu folgern, dass die europäischen Parteiensysteme in der Gesamtbetrachtung keine Tendenz zu einer Krise besitzen, wäre aber zu kurz gedacht. Eventuell könnte ja in der Gesamtentwicklung eine Tendenz zu erkennen sein, die eine krisenhafte Entwicklungsrichtung und Dynamik erkennen lässt. Daher lohnt auch ein Blick auf den nach Einwohnern gewichteten EU-Mittelwert der beiden Kennzahlen.
Bis Anfang der 1960er-Jahre befanden sich die Parteiensysteme in den 28 aktuellen EU-Mitgliedsstaten auf dem Weg der Konsolidierung. Von fast fünf Parteien noch 1956 sank der Wert rasch: Schon 1962 lag die effektive Anzahl der Parteien unter vier und schwankte anschließend bis 1991 nur leicht zwischen 3,3 und 3,8.
Auch die Volatilität sank rasch auf 6,7 % im Jahr 1958. Bis 1979 blieb sie dann auch unter zehn Prozent. Früher als bei der Anzahl der Parteien kam es hier aber zu Ausschlägen und Schwankungen. Aber trotz hoher Werte 1979 (10,5 %) und 1984 (15,8 %) beruhigte sich das Geschehen in der zweiten Hälfte der 1980er. 6,7 % lautete der Wert noch 1990, auch 1991 lag er nur unbedeutend höher.
Insgesamt gesehen waren die europäischen Parteiensysteme in der Gesamtschau bis 1990/1991 relativ stabil. Von größeren Krisen und Umbrüchen ist nur wenig zu sehen. Einzelne Wahlen brachten Bewegung in die Zahlen. Sie waren aber nicht Teil einer zusammenhängenden Veränderung in die Parteiensysteme in den entsprechenden Ländern beruhigten sich in der Folge meist rasch.
Die friedlichen Revolutionen in den mittel- und osteuropäischen Staaten veränderten die Lage jedoch ab 1990: In erster Konsequenz brachten die „neuen“ Parteiensysteme eine höhere Fragmentierung ein. Vor allem mit den zweiten Wahlen nach den Revolutionen begann aber auch bereits die Konsolidierung der mittel- und osteuropäischen Parteiensysteme – einhergehend mit einer starken Volatilität. Auch die westlichen Staaten trugen einen Teil zur höheren Fragmentierung bei und konnten bei der Volatilität die Werte der mittel- und osteuropäischen Staaten nicht egalisieren.
In der Gesamtschau hielt der Rückgang in der Fragmentierung jedoch an. Vom hohen Wert 1993 (5,7) sank sie mit leichten Ausschlägen ab auf 4,0 im Jahr 2008. Damit erreichte sie fast wieder den Wert von 1991.
Die Volatilität blieb jedoch auf hohem Niveau erhalten. Die Extremwerte lagen bei 21,1 % (1994) und 19,5 % (1996). Auf Werte unter 10 % wie in den 1960er- und 1970er-Jahren sank sie nicht wieder.
Nach 2008 zeigt die Entwicklung wieder nach oben: Die Parteienanzahl stieg von 4,0 auf aktuell 4,6, die Volatilität kletterte von 14,9 % auf 20,4 %. Dennoch: Eine krisenhafte Situation sieht anders aus. Beide Anstiege sind eher verhalten und die aktuellen Werte im Rahmen der letzten 20 Jahre nicht außergewöhnlich. Erst wenn sich der Trend dramatisch verstärkt könnte er eine allgemeine Krise der Parteiensysteme abbilden.
Fazit
In meiner Untersuchung ging es mir zuerst darum, mir einen Überblick über die Entwicklung der Parteiensysteme in den EU-Staaten zu verschaffen. Ausgehend davon interessierte mich die Frage, ob die Parteiensysteme in der EU in den letzten Jahren in der Krise stecken. Gibt es seit 2010 so weitreichende Veränderungen in zahlreichen Parteiensystemen der 28 Mitgliedsstaaten, dass man von einer allgemeinen Krise sprechen kann?
Mein Urteil darüber gründet sich auf der Entwicklung der Volatilität und Fragmentierung der Parteiensysteme. Entwickeln sich diese beiden Faktoren in den letzten Jahren untypisch für einen Staat oder gibt es signifikante Wendepunkte in dieser Zeit, die für das Funktionieren des politischen Systems negative Auswirkungen haben, dann könnten das Anzeichen einer Krise sein. Wandel alleine ist dagegen meiner Meinung nach nicht mit einer Krise gleichzusetzen, Parteiensysteme können sich verändern, bei begrenzter Volatilität bis zu einem gewissen Punkt fragmentieren, sie dürfen sich konsolidieren oder die Volatilität auf gemäßigte Werte steigen. Erst wenn die Entwicklungen den sich dramatisch dynamisieren oder die Funktionsfähigkeit gefährdende Werte erreichen, kann eine Krise vorliegen.
Nach meiner Einschätzung gibt es deutliche Anzeichen für eine Krise in fünf Staaten: Griechenland, Irland, Tschechien, Rumänien und Ungarn. In diesen Staaten ist die Dynamik des Parteiensystems zuletzt soweit fortgeschritten, dass das Funktionieren eines demokratischen politischen Systems gefährdet ist oder zum Teil sogar schon eine Insuffizienz erkennbar ist.
In drei weiteren Staaten (Finnland, Spanien und Vereinigtes Königreich) liegt ein starker Wandel bzw. ein einsetzender Umbruch vor, der zwar noch nicht krisenhafte Züge annimmt, aber die politischen Systeme doch unter Druck setzt.
In drei Staaten (Portugal, Dänemark und Slowenien) liegt immerhin ein Wandel des Parteiensystems vor, mit dem diese allerdings zu jetzigen Zeitpunkt noch gut umgehen können.
In zwei Staaten (Belgien und Malta) ist das Parteiensystems absolut stabil.
Und in mehr als der Hälfte aller Staaten (15) – darunter mit Deutschland, Frankreich und Italien auch die Mehrzahl der fünf größten Staaten – gibt es zwar eine Entwicklung im Parteiensystem, aber diese ist konstant seit geraumer Zeit.
Betrachtet man die gesamteuropäische Ebene, dann kann man – im Wesentlichen durch den Einfluss der mittel- und osteuropäischen Staaten – seit 1990 zwar eine gestiegene Volatilität und Fragmentierung erkennen – aber eine dramatische Zuspitzung in den letzten Jahren ist nicht zu erkennen. Immerhin landen bei Wahlen aktuell im Saldo über 80 Prozent der Wählerstimmen wieder da, wo sie auch schon bei der letzten Wahl waren.
Aktuelle Herausforderungen für die europäische Politik spiegeln sich sehr wohl in den europäischen Parteiensystemen. Allerdings bleiben wirklich dramatische Veränderungen auf die Länder beschränkt, die von den Problemen auch direkt betroffen sind – und selbst unter diesen Ländern gibt es Parteiensysteme, die von Eurokrise und Co. nur wenig beeindruckt sind. Eine Übertragung der Turbulenzen auf andere EU-Staaten findet derzeit nicht statt, und es gibt auch keinen Großtrend in der gesamte EU, der auf eine problematische Verhältnisse hindeutet. Europas Parteiensysteme sind demnach nicht pauschal in der Krise.
Anmerkung: Zwischen dem 13. August und dem 13. September 2015 waren hier zum Teil leicht abweichende Zahl veröffentlicht, die auf Grund einer Verfeinerung der Zahlen (von Jahreszahlen auf tagesaktuelle) revidiert wurden.
Anmerkung: Aktuelle Werte und mit z.T. veränderten Berechnungen finden sich in den aktuellen Beiträgen zum Thema: „Fragmentierung und Volatilität von Parteiensystemen„