69 Bundestags- und Landtagswahlen liegen zwischen Angela Merkels Wahl als CDU-Vorsitzender im April 2000 und der bevorstehenden Kür ihres Nachfolgers oder ihrer Nachfolgerin im Dezember 2018. Wie ist ihre Bilanz im addierten Wahlergebnis?
Als Angela Merkel am 10. April 2000 zur CDU-Vorsitzenden gewählt wurde steckte die CDU in einer Krise: Nach 16 Jahren hatte sie die Macht in Bonn/Berlin 1998 an die SPD abgeben müssen und steckte selbst inmitten einer Spendenaffäre, die Helmut Kohl der Partei hinterlassen hatte. Unmittelbar vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen stand die Partei im addierten Wahlergebnis bei 38,08 Prozent – auf dem zweiten Platz hinter der SPD (38,16 %). Auch der ehemalige Koalitionspartner FDP hatte mit 5,33 Prozent existentielle Probleme, die GRÜNEN waren mit 7,12 Prozent etabliert und PDS war ein v.a. ostdeutsche Phänomen auf dessen Verschwinden die anderen Parteien wohl hofften (4,85 %).
Schleichende Verluste bei der CDU, Absturz bei der SPD
6.818 Tage liegen zwischen der letzten Wahl ohne Merkel im CDU-Vorsitz (Schleswig-Holstein, 27.02.2000) und der letzten mit Merkel im CDU-Vorsitz (Hessen, 28.10.2018). 6.818 Tage, die reichlich Bewegung in das Parteiensystem brachten.
Mit der Bundestagswahl 2002 überholten CDU und CSU die SPD wieder im addierten Wahlergebnis, Werte über 40 Prozent – bis 1998 noch Normalität – hielten sie aber nur 2003 bis 2005. Bei 27 der 69 Landtags- und Bundestagswahlen in dieser Zeit legten CDU oder CSU zu, entsprechend verloren die Schwesterparteien 42 Wahlen im Zeitraum. Das addierte Wahlergebnis Ende Oktober 2018: 31,98%, ein Minus von 6,10 Prozentpunkten.
Auch die SPD stürzte in dieser Zeit ab. Nur bei 25 Wahlen stand sie im Plus. Von ihrem Höchstwert (38,7 % im Oktober 2001) ist sie meilenweit entfernt. 16,37 % Prozentpunkte ging es nach unten auf aktuell 21,79 Prozent. In relativen Zahlen hat die SPD fast 43 Prozent ihres 2000er-Wertes abgegeben. Die wenig siegreiche Merkel-CDU steht gegen die Schröder-Müntefering-Platzeck-Beck-Steinmeier-Müntefering-Gabriel-Schulz-Scholz-Nahles-SPD der Merkeljahre fast noch blendend da.
Kleine Parteien: Merkeljahre sind (fast immer) gute Jahre
Die Verluste der beiden Volksparteien sind auch Auslöser für oder Folge der Veränderungen auf den hinteren Plätzen: Die FDP erstarkte zwischenzeitlich auf knapp zwölf Prozent (2011), rutschte 2014/2015 gefährlich nahe an die 5-%-Marke (und 2013 aus dem Bundestag) und steht aktuell mit 9,20 Prozent wieder im deutlichen Plus gegenüber 2000. Die GRÜNEN schafften 2011 den Sprung über die 10-%-Marke und halten sich dort seitdem erfolgreich (aktuell 11,04 %). Die PDS expandierte als DIE LINKE in den Westen. Auch wenn sie dort nie richtig dauerhaft Fuß fassen konnte, steht sie nach einem über-10-%-Zwischenhoch (2010-2012) als die konstanteste der deutschen Partei derzeit bei stabilen 8,23 %.
Randphänomene blieben die PIRATEN (2012-2017 zwischen zwei und drei Prozent), die NPD (2005-2017 zwischen einem und zwei Prozent) und die FREIEN WÄHLER, die seit 2009 auf einer bemerkenswerten bayerischen Basis die 1-%-Marke überschritten haben und eher gegen zwei Prozent tendieren (aktuell 1,75 %).
Die politischen Schlagzeilen dominiert seit ihrem Auftritt 2013 dagegen die AfD. Als Neugründung ist sie in wenig mehr als einer Wahlperiode zur drittstärksten Kraft aufgestiegen. 11,67 Prozent hält sie derzeit im addierten Wahlergebnis. Sie ist mit Sicherheit zumindest in Teilen ein Ergebnis der Politik der Merkel-CDU. Auch wenn ihr liebster Schlachtruf „Merkel muss weg“ nahelegt, dass ihr ohne Angela Merkel Mobilisierungspotenzial verloren geht: Auf ihr Verschwinden nach deren Abtritt setzt wohl niemand guten Gewissens höhere Summen.
Was bleibt also aus Wahlsicht von der Ära der Merkel-CDU? Ist Merkels Politik schuld an der Wahlergebnis-Erosion der CDU/CSU? Ein Blick auf die SPD legt eher nahe: Angela Merkel konnte diese – vielleicht dem schnelllebigen und sich weiter individualisierenden Zeitgeist folgende – Erosion nicht stoppen. Ihre integrierende Kraft war aber scheinbar deutlich größer als die der verschiedenen SPD-Kurse in der Zeit. Wurde sie 2013 noch als die Garantin des CDU-Erfolges gefeiert (als am Wahltag sogar das Schlagwort „absolute Mehrheit“ ernsthaft im Raum stand), so war es 2017 eben das Gegenteil. Aber ein Abtritt inmitten der turbulenten Jahre 2015 und 2016 hätte der stabilitätsorientieren Union-Wählerschaft vielleicht ebenso wenig gefallen. Die Wahlbilanz von Angela Merkel bleibt also gemischt.
aktueller Exkurs: AfD etabliert – auf wessen Kosten?
Nachdem die AfD nun in allen 16 Landesparlamenten vertreten ist, auch zu ihrem Einfluss auf das addierte Wahlergebnis ein paar Worte und ein Blick auf die Werte der anderen Parteien seit der letzten Wahl ohne die AfD (Bayern 15.06.2013): Große Verliererin bleibt auch hier die SPD mit einem Minus von 4,12 Prozentpunkten. In relativen Werten verliert die SPD sogar knapp 16 Prozent gegenüber 2013. Niedriger sind die Verluste dagegen bei CDU/CSU (2,06 Prozentpunkte, 6,05 Prozent) und den GRÜNEN (0,72 Prozentpunkte, 6,15 Prozent), während auch FDP und DIE LINKE zweistellige relative Verluste einfahren müssen. Diese Werte betrachtend ist die AfD vielleicht für SPD, FDP und DIE LINKE ein größeres Problem, als diese sich öffentlich eingestehen möchten.
aktueller Exkurs: GRÜNE als Volkspartei?
Wie nach den Top-Werten von 2011 ist wieder einmal von den GRÜNEN als neue Volkspartei die Rede. Eine Volkspartei, also eine Partei, die „die ganze Bevölkerung als potenzielle Wählerzielgruppe betrachtet“ und „deshalb Anhänger und Wähler in allen Bevölkerungsschichten hat“, sind die GRÜNEN aber noch lange nicht. Wendet man den Blick ab vom thematisch begünstigen Ergebnis in Bayern (Flächenfraß, Hambacher Forst, noPAG etc.) und den guten Werten in Regierungsverantwortung in Hessen bleibt: Bei sechs der 17 maßgeblichen Wahlen zuletzt blieben die GRÜNEN unter sechs Prozent, schafften in Mecklenburg-Vorpommern 2016 und im Saarland 2017 nicht den Einzug in den Landtag, der Osten insgesamt bleibt schwieriges Terrain für die GRÜNEN.
Die Unterschiede zwischen wohlhabenden Regionen, Stadtstaaten, Universitätsstädten und jungen gut gebildeten Milieus auf der einen Seite und abgehängten Gebieten, Flächenländern, den Ländern im Osten, niedrig gebildeten Männern und ländlichen Regionen auf der anderen Seite sind bei keiner der Bundestagsparteien so groß wie bei den GRÜNEN. Die anstehenden Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen 2019 werden das Thema Volkspartei für die GRÜNEN bis 2020/2021 wieder auf Eis legen. Eine positive Notiz bleibt jedoch für die Partei: Regierungsverantwortung scheint ihren Ergebnissen aktuell nicht zu schaden.